Um die Abhängigkeit des Daimler-Konzerns vom Shareholder-Value weiter zu verfolgen, wollen wir uns zwei seiner Vorstandsvorsitzenden näher ansehen, Edzard Reuter und Jürgen Erich Schrempp, die genau in dieser Reihenfolge dieses Amt von 1987 an bzw. von 1995 bis 2005 innehatten. Die Geschichte geht also einigermaßen nahtlos weiter.
Die beiden können unterschiedlicher kaum sein, das beweist schon ihr Werdegang, obwohl er an gleicher Stelle endet. Reuter hat einen berühmten Vater, Ernst Reuter, der nicht nur mit seiner berühmten Rede als Berliner Oberbürgermeister ('Schaut auf diese Stadt') Furore gemacht hat. Schrempp kommt 1944 als mittlerer von drei Brüdern in Freiburg (Breisgau) in gutbürgerlichen Verhältnissen zur Welt.
Reuter ist 1928 geboren und muss 1935 mit seinen Eltern wegen deren Zugehörigkeit zur Sozialdemokratie in die Türkei nach Ankara emigrieren, wo der Vater allerdings eine gut besoldete Stelle als Sachbearbeiter im Wirtschaftsministerium innehat. Er wächst getrennt von seinen Geschwistern praktisch als Einzelkind auf.
Jürgen Schrempp ist kein guter Schüler, liebt wohl nur die Naturwissenschaften und hasst Sprachen. Er verweigert hier z.T. konsequent die Mitarbeit und bleibt prompt in der Quarta (7. Klasse) sitzen. Reuter hat bei einer in Deutschland ausgebildeten Türkin eine Art Privatunterricht, der das Pensum in deutschen Gymnasien trotz fehlender Lehrmittel wohl übertrifft und ist besonders in Sprachen ein guter Schüler.
Schrempp verlässt mit der mittleren Reife das Gymnasium und beginnt bei Mercedes eine Lehre. Er wird der einzige Vorstandsvorsitzende werden, der auch einen Motor zerlegen und wieder zusammenbauen kann. Reuter wird wegen der turbulenten Verhältnisse vor und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges das Abitur erst 1947 extern ablegen, allerdings mit Auszeichnung.
Während Schrempp wegen des Verlassens der Schule mit seinen Eltern im Streit lebt, hat Reuter Schwierigkeiten mit dem Wechsel von einer erfüllten Jugend in Ankara in ein völlig zerstörtes Berlin bzw. Deutschland. Er wird später besonders sein Verhältnis zur behütenden Mutter hervorheben und seinem Vater sogar leise Vorwürfe machen, dass der zu wenig mit Ratschlägen in sein Leben eingegriffen habe.
Schrempp scheint genau zu wissen, was er will. Nach seiner Lehre beginnt er ein Studium an der Ingenieurschule Offenburg, die währenddessen zur Fachhochschule wird und er zum Diplom-Ingenieur. Sein Platz bei Mercedes wurde ihm freigehalten. Reuter verbringt mehr als ein Jahr auf den Hochschulen in Berlin und Göttingen, ehe er sich endgültig für ein Jura-Studium entscheidet.
Auf den ersten Blick vielleicht nicht so unterschiedlich sind die sportlichen Aktivitäten der beiden, Tennis spielen bei Reuter und Bergsteigen bei Schrempp. Beide bringen es zu ansehnlichen Erfolgen, allerdings entpuppt sich auch hier Schrempp als der härtere und vielleicht auch noch ehrgeizigere.
Nach dem Studium, wieder mit Auszeichnung, geht es bei Reuter weiter mit den Schwierigkeiten. Der später als Arbeitgeber-Präsident von der RAF ermordete Hanns-Martin Schleyer ist zu der Zeit Leiter der Berliner Mercedes-Niederlassung. Er will ihn auch wegen seiner Sprachkenntnisse (Türkisch, Englisch, Französisch) einstellen, scheitert aber offensichtlich an Verdikten von oben wegen der Nähe Reuters zur SDP.
So findet sich Reuter am Ende bei der einst so berühmten UFA wieder, einer Filmgesellschaft, im Dritten Reich berühmt, aber jetzt auch nach Abtrennung vom Stammsitz (Defa) nur noch mühsam existierend. Er macht dort über die Arbeit in der Rechtsabteilung Karriere bis zum Produktionschef. Allerdings misslingt sein Übergang zum Zulieferer für das gerade entstehende ZDF mit Hilfe des Bertelsmann-Konzerns.
Während Reuter mit 35 Jahren vor den Scherben seiner bisherigen Karriere steht, ist Schrempp in diesem Alter längst bei Mercedes aufgestiegen. Er hat einen Förderer, Karlfried Nordmann, dem er bis zu einem gewissen Grad auf der Karriereleiter folgt. Nach dem unvermeidlichen Intermezzo in der Stuttgarter Konzernzentrale tritt er 1974 mit 30 Jahren den für seine Entwicklung wichtigen Auslandsposten in Südafrika an.
10 Jahre früher ist Reuter dort angekommen, wo er später einmal leitende Positionen einnehmen wird. Doch zunächst ist der vom Vorstandsmitglied Hanns Martin Schleyer und dem Stuttgarter Oberbürgermeister Arnulf Klett protegierte unbeschäftigt. Er will sich schon bald wieder nach einer ereignisreicheren Stelle umsehen, als er doch die ersten Aufträge seines Chefs Joachim Zahn erhält und wohl auch zu dessen Zufriedenheit ausführt.
Ganz anders Schrempp 10 Jahre später. Er gerät in Afrika sprichwörtlich in eine Löwengrube. Obwohl Mercedes einen beachtlichen Teil seiner Fahrzeuge im Land fertigen muss, geschieht dies noch durch die Vorgängerfirma der Mercedes Benz of South Africa. In relativ kurzer Zeit steigt er dort vom regionalen zum nationalen Service-Manager auf.
1982 gibt es für Jürgen Schrempp ein Zwischenspiel in USA. Dort soll er die Daimler-Tochter Euclid sanieren, die schwere Trucks usw. produziert. Eigentlich ein Heimspiel für den Truck-Liebhaber, aber letztlich wird nichts draus. Er verkauft die Firma offensichtlich mit Zustimmung seiner Oberen und kehrt 1984 wieder nach Südafrika zurück.
Reuter hat sich schon nach zwei Jahren für seinen nicht immer einfachen Chef unentbehrlich gemacht. Mit ihm steigt er zum Hauptsekretär und bearbeitet somit den gesamten Schriftverkehr des Vorstands und des Aufsichtsrates. Allerdings sorgt an dieser Stelle nicht zum ersten Mal in Reuters beruflicher Laufbahn seine Mitgliedschaft in der SPD für Diskussionen.
Ganz anders Schrempp. Er 'glänzt' durch andere Eigenschaften: Härte bei Verhandlungen, Suchen nach der direkten Konfrontation. Das allerdings wird er sich bei seinem zweiten Südafrika-Aufenthalt etwas abschminken müssen, den mit seinem relativ zügigen Aufstieg zum Chef dort wächst auch die politische Konfrontation.
Wir befinden uns in einem Apartheits-Regime, in dem Mercedes vornehmlich Luxusautos an begüterte Weiße verkauft. Die Schwarze Mehrheit rebelliert, fordert selbstverständliche Rechte ein. Viele ausländische Industriebetriebe haben das Land bereits verlassen. Während die Daimler-Mutter zuhause riesige Gewinne einfährt, macht die südafrikanische Tochter Verluste.
Während sich Schrempp in Südafrika trotzdem einen Namen macht und auf einen schnellen Wechsel aus dem Desaster in die Konzernzentrale aus ist, lernt Reuter Jahre früher den Konzern kennen. Das sind neben dem Vorstand und dem Aufsichtsrat die Aktionäre, darunter noch Flick mit seinem Bevollmächtigten Eberhard von Brauchitsch. Nach dessen Reduzierung des Aktienpakets wird die Deutsche Bank endgültig zum bestimmenden Faktor.
Zwei verschiedene Charaktere. Der eine von eher rauer Beschaffenheit, der andere dagegen etwas doch sehr als feinnerviger Philosoph posierend. Beide deutlich ehrgeizig, ersterer dem Extremsport Bergsteigen u.a. mit Messner verfallen, letzterer breit aufgestellt mit Tennis und Reiten, ebenfalls nicht ohne Vergleich mit Profis.
Reuters Daimler-Karriere
1964
Beginn des Arbeitsverhältnisses
1971
Leitung Unternehmensplanung
1973/76
stellvertr./ordentl. Vorstandsmitglied
1980
Finanz-/Betriebswirtschaft
1987
Vorstandsvorsitzender
Beide haben sich übrigens noch in Schrempps Zeit in Südafrika getroffen, offensichtlich Freundschaft geschlossen und sind durchs Land gereist. Man sagt, Reuter habe Schrempp wie einen Sohn behandelt und sei auch für dessen erfolgreiche Rückkehr in die Konzernzentrale verantwortlich. Irgendwann ist das Verhältnis dann zerbrochen.
Wie es dazu kam? Begonnen hat es mit dieser leidvollen Unternehmensplanung Reuters. Er will den Konzern breitere aufstellen. Gleichzeitig eröffnet sich ihm durch die neue, den ehemaligen Konzern mit erfassende Holding die Chance, seinen Chef Breitschwerdt, der ihm als Vorstandsvorsitzender vorgezogen wurde, ins Abseits zu stellen. Schon unter dessen Führung beginnen Reuter und Niefer, die enormen Mercedes-Gewinne in Beteiligungen anzulegen.
Das erste 'Opfer' ist Dornier. Niefers gute Beziehungen dorthin nützen nichts, sie werden letztlich im Gemisch von zerstrittenen Erben, der cleveren Dornier-Tiefenthaler und deren vertraglich fixierten Stolpersteinen einigermaßen über den Tisch gezogen, trotz oder gerade wegen der vielen nötigen Nachverhandlungen. Es folgen AEG und MTU, so dass der ehemalige Autokonzern sich kaum wiedererkennt.
Und Schrempp? Der wird von Reuter als neuer Chef der Dasa inthronisiert, denn Leute im Management braucht der neue Konzern jetzt zuhauf. Dasa, das ist das mehrfach geänderte Zauberwort eines aus Dornier, MTU und sogar Teilen der ebenfalls zugekauften AEG gebildeten Luft- und Raumfahrkonzerns. Schrempp kauft in seiner Zeit noch Focker hinzu, günstig so scheint es. Am Ende muss auch dieses Engagement, genau wie das bei der AEG, teuer abgeschrieben werden.
Sicher, zusammen mit Messerschmidt-Bölkow-Blohm schmiedet Reuter einen riesigen Industriekomplex, der heute zusammen mit französischem und spanischem Partner nach dem Raumfahrtprogramm z.B. an der Airbus-Fertigung beteiligt ist. Mercedes hat viel dazu beigetragen, aber letztlich ist eine Menge Kapital nicht mehr refinanziert worden. Schlimmer noch, SPD-Mitglied Reuter muss sich nachsagen lassen, Daimler nicht nur wie bisher mit seiner Nutzfahrzeugsparte, sondern massiv und direkt an der Produktion von Kriegswaffen beteiligt zu sein. 10/12